Schuldzuweisungen im luftleeren Raum? Der Absturz von Flug MH17
Am vergangenen Donnerstag stürzte im Osten der Ukraine eine Boeing 777 der Malaysia Airlines ab. Alle 298 Insassen des Flugs MH17, der von den Niederlanden nach Malaysia unterwegs war, kamen bei dem Absturz ums Leben. Die genauen Umstände und Ursachen des Unglücks sind immer noch nicht geklärt. Ein technischer Defekt scheint ausgeschlossen, alles spricht für einen gewaltsam herbeigeführten Absturz. Handelt es sich um einen bewussten Akt oder ein tragisches Versehen? Und wer sind die Verantwortlichen?
Besonders heikel ist der Vorfall deshalb, weil das Flugzeug über einem Gebiet vom Himmel geholt wurde, das von separatistischen Kräften kontrolliert wird, die Autonomie bzw. einen Anschluss an Russland anstreben. Der ukrainische Staat bekämpft diese Separatisten mit gewaltsamen Mitteln.
Die ukrainische Regierung machte direkt nach dem Unglück die prorussischen Separatisten – und auch Russland selbst – für den Absturz verantwortlich. Die Separatisten sollen die Passagiermaschine – vorsätzlich oder irrtümlich – mit einer Buk-Boden-Luft-Rakete abgeschossen haben, die sie entweder von ukrainischen Streitkräften erbeutet oder von Russland erhalten haben soll. Viele westliche Beobachter folg(t)en dieser Sichtweise. Die Separatisten und auch Russlands Präsident Wladimir Putin gaben wiederum der Ukraine die Schuld für den Vorfall. Insbesondere Putin sprach sich vehement gegen Schuldzuschreibungen durch den Westen aus. Das ohnehin äußerst angespannte Verhältnis zwischen dem Westen und Russland hat sich in den letzten Tagen noch weiter verschlechtert.
Einen Tag nach dem Absturz der Boeing begibt sich Jürg Vollmer auf die Spurensuche. Für ihn spricht vieles dafür, dass die prorussischen Separatisten die Passagiermaschine mit einer Buk-Rakete abgeschossen haben. Erst vor wenigen Wochen hätten die Rebellen ein Buk-Flugabwehrraketensystem von einer ukrainischen Militärbasis erbeutet. Kurz vor dem Absturz von Flug MH17 sei ein solches Waffensystem dann in unmittelbarer Nähe des Unglücksortes gesichtet worden. Nach dem Unglück hätten sich die Separatisten zudem (unter anderem) auf sozialen Netzwerken mit dem Abschuss eines Flugzeugs gebrüstet.
Dass die ukrainische Armee, die auch über Buk-Raketen verfügt, für den Abschuss der Boeing 777 verantwortlich sein könnte, sei hingegen unwahrscheinlich: Da die Rebellen keine Flugzeuge besitzen, würde es für den ukrainischen Staat wenig Sinn machen, solche Raketen auf dem umkämpften Gebiet zu stationieren. Die Indizien sprechen laut Vollmer also dafür, dass die prorussischen Rebellen verantwortlich für den Absturz sind. Dass es sich um eine Verwechslung mit einer ukrainischen Militärmaschine handeln könnte, wie mancherorts gemutmaßt wird, will Vollmer zwar nicht ganz ausschließen, hält es aber auch nicht für sonderlich wahrscheinlich.
Unter Berücksichtigung der bis dato vorliegenden Indizien erachtet auch Michael Spreng die prorussischen Separatisten als verantwortlich für den Absturz der Boeing 777. Spreng geht aber noch weiter: Wladimir Putin habe die Separatisten in der Ostukraine in vielerlei Hinsicht unterstützt – auch militärisch. Die bunt zusammengewürfelten separatistischen Truppen habe er scharf gemacht und dann (eventuell) die Kontrolle über sie verloren. Daher trage auch Putin eine ganz gehörige Mitschuld an der Gewalteskalation. Wenn sich die Indizien zur Absturzursache weiter erhärten, stünde laut Spreng der ganze Ukraine-Konflikt möglicherweise vor einer Wende. Dann müssten die vielen (auch deutschen) Putin-Versteher endgültig zugeben, dass sie zu lange auf den Falschen gesetzt hätten und sich umorientieren.
Ulrich Gellermann stellt auf Rationalgalerie der deutschen Berichterstattung zum Flugzeugunglück im Osten der Ukraine kein gutes Zeugnis aus. Zu wenig würden die ukrainischen und amerikanischen Erklärmuster, die einseitig den Separatisten die Schuld in die Schuhe schöben, in Zweifel gezogen. Unbewiesene Behauptungen würden schnell von den etablierten Medien übernommen und damit quasi in den Rang von Fakten erhoben. Naheliegende Fragen würden nicht gestellt. Etwa nach den ukrainischen Buk-Raketen oder warum die Boeing – auf Anweisung der ukrainischen Flugsicherheit, wie mancherorts berichtet wurde – niedriger als ursprünglich geplant geflogen sei. Ein ordentlicher Journalismus müsste aber genau solche Fragen stellen und zu beantworten versuchen, findet Gellermann. Ansonsten beteilige man sich an Propaganda, die doch angesichts der Tragödie eigentlich ruhen sollte.
Auch Heinz Sauren kritisiert auf dem Freigeist BLOG die unmittelbar nach dem Absturz von beiden Seiten einsetzende Polit-Propaganda. Sowohl die ukrainischen als auch die (pro-) russischen Schuldzuweisungen für das Unglück sieht Sauren skeptisch. Beide ließen sich in mancherlei Hinsicht in Zweifel ziehen. Doch um die Wahrheit ginge es schon lange nicht mehr. Im Mittelpunkt stünde vielmehr, wer die Deutungshegemonie für die Vorfälle innehabe. Als Medienkonsument solle man sich laut Sauren mit einem schnellen Urteil daher tunlichst zurückhalten und sich stattdessen die Frage stellen, wem der Absturz der Boeing denn eigentlich nütze. Vielleicht komme man dann der Sache ein wenig näher.
Der Ukraine-Konflikt ist um eine weitere, blutige Facette reicher. Es ist in Anbetracht der knapp 300 Toten alles andere als verwunderlich, dass die Öffentlichkeit nach Gründen und Schuldigen sucht. Insbesondere für die Angehörigen der Absturzopfer bleibt zu hoffen, dass die Verstrickungen und Loyalitäten im Ukraine-Konflikt, in die der Absturz eingebettet ist, diese Suche nicht nachhaltig behindern.